10. Juni 98 - Weiter nach Norden über den Atigun Pass
Der Himmel ist deutschlandgrau und es regnet; nicht sehr stark, aber fein weg. Der Regen wird die
Straßenverhältnisse nicht gerade verbessern, daß wird den Camper, der jetzt schon wie "Sau" ausschaut weiter
"gut einsauen"...
Am späten Vormittag passiere ich die Baumgrenze, nicht weit vor der Steigung zum Atigun Pass, ca.
1450m hoch. Wenn man nicht drauf achtet, merkt man gar nicht, daß die Bäume kleiner und krüppliger
werden und irgendwann ganz aus der Landschaft verschwunden sind und nirgends mehr auftauchen.
Ich halte auf einem Parkstreifen in der Nähe des Chandalur Camp. Westlich von der Straße beginnt
der vollkommen unerschlossene "Gates of the Artic National Park". Ein mächtiger Hügel in
unmittelbarer Straßennähe läd ein, ihn wie einen Aussichtsturm zu besteigen. Auf einem Stein direkt
auf dem Hügel ritze ich meinen Namen nebst Datum ein. Zwei Jahre zuvor hatte schon jemand die
gleiche Idee.
Wieder unten gibt es ein kleines Mittagessen und dann fahre ich weiter auf den Pass zu. Er ist in
naßkalte Nebelschwaden getaucht, dennoch sind es 10°C dort oben. Rechts und links der steil
ansteigenden Straße dicke Schnee- und Eispanzer. Ich ernte etwas von dem Eis für meine Kühlbox.
Extreme Witterungsregionen symbolisieren in den Vorstellungen vieler Menschen "das Ende der Welt".
Für mich hat sich der hohe Norden als eine "Vorstellung" von einem Ende, von einem Übergang in
unwirtliches aber auch unwirkliches festgesetzt. Das so radikal Andere der Landschaft, aber auch das
Licht, diese depressiv wirkende und überall lauernde Dunkelheit als Sendboten einer ewigen Nacht
und die häufig nur wenige Meter hohen Wolken und Nebelschwaden über skurrile
Landschaftsformationen, - einerseits, und andererseits: eine mehr als durchsichtig wirkende klare Luft,
ein so sauberes helles und doch zugleich mildes Licht der Sonne und nicht annähernd vergleichbar mit
dem teils brutalen hellen Licht des heißen Südens - einerseits und andererseits! Und dann beides
zugleich: hier die drohende Dunkelheit, die wabernden dichten Nebelschwaden hinter denen die
Felsen und Hügel zu grauen Gnomen und Riesen verschwimmen und dort: man dreht sich um und
sieht unendlich wirkendes, helles wie verlockendes Sonnenlicht.
Da ich schon einige Reisen in die nördlichen Regionen unternommen habe (Skandinavien, Grönland,
Island) sind mir das Wechselspiel von Licht, Wolken und Landschaft im beschriebenen Sinn nicht
unbekannt, doch niemals hatte ich das Gefühl nun verlasse ich die gemäßigte Zone und erreiche die
arctische Region. Dem Polarkreis wird man so einen Übergang nirgends auf der Welt ansehen
können; dieses Tor gibt es nicht, denn irgendwann ist man einfach da. Doch als ich den Atigun Pass in
nördlicher Richtung verließ, dicht über mir die dicken, grauen Wolken, vor mir ein weites Tal mit
kargen, langgezogenen Berghängen rechts und links und weit vorn am Horizont hell leuchtendes und
lockendes Licht über die "Nordsenke" Alaskas hatte ich ganz deutlich das Gefühl, nun fahre ich in eine
ganz andere Region auf das nördliche Ende der Welt zu.
Ein starker sinnlicher Eindruck hervorgerufen einzig und allein durch das Zusammenspiel von Licht,
Wolken und Landschaft. Als ich das Tal erreichte war der Eindruck verschwunden und ich fuhr wieder
ganz banal auf dem Dalton Highway. Links die Alaskapipline, vor mir Baustellenfahrzeuge, denn die
Straße war in dieser Region arg schlecht. Mit maximal 25 Meilen holperte ich gen Norden. Nur die
Trucks waren von dem schlechten Zustand unbeeindruckt und donnerten brutal über die
zerschundene Piste.
Am frühen Nachmittag parke ich den Camper direkt am Straßenrand auf einer mit Schotter befestigten
Fläche die sich zum Parken und übernachten bestens eignet. Denn normalerweise kann man die
Fahrbahn kaum irgendwo mit dem Fahrzeug verlassen um sich nicht der Gefahr auszusetzen stecken
zu bleiben, auch mit einem Allradfahrzeug. Die Aussicht über die Tundra, und die Slope Mountains
dahinter ist super. Es ist nur naßkalt. Kurz vor diesem Platz bin ich noch durch einen
Schneeregenschauer gefahren.
Kurz nach sechs: die kühle Luft schleicht immer schnell ins Mobil. Das schlechte Wetter aus den
Bergen scheint auch mitgereist zu sein. Die Berge sind Wolkenverhangen. Und es tröpfelt auch schon
leicht vor sich hin. Nichts mehr zu sehen von dem verlockenden Licht, dem ich vom Pass aus
entgegenfuhr. Relativ viel Verkehr, durchschnittlich alle sieben Minuten ein Auto, Arbeiter der
Alaskapipline und natürlich die Trucks. Sie verursachen ein paradoxes Gefühl von unwirtlicher
Einsamkeit und menschlicher, zivilisatorischer Nähe.
Die Zeit verstreicht. Trübes Licht liegt auf der grün-braunen Unendlichkeit - nein, in der Ferne scheinen
die Berge blau, richtige blaue Berge. Ich schaue aus dem Fenster, ich lese, ich trinke ein Bier. Später
laufe, genauer stampfe ich noch gut eine Stunde in der näheren
Umgebung umher und beobachte Enten auf den kleinen
Schmelzwasserseen.
(c) Klaus Dieter Schley - 1999 - 2010